Das Leben mit einem Dumb Phone

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Vor einigen Wochen habe ich mein iPhone gegen ein Dumb Phone eingetauscht. Ein Handy, wie aus einer vergessenen Welt, nur in der Lage Anrufe und SMS auszuführen.

Noch so einer, denkt ihr jetzt wahrscheinlich. Hipster-like Detoxing mit einem alten Nokia. Analog ist das neue Bio. Berlin-Mitte, Lastenfahrrad und Latte Macchiato. Und jetzt erzählt er uns, was er dadurch für ein besserer Mensch ist. Wie er überfordert ist mit der heutigen Geschwindigkeit, ein Abgehängter, der dem ganzen einen hübschen Retro-Anstrich gibt. Ein Wutbürger aus dem Bio-Bürgertum.

Ehrlich gesagt, ein bisschen ist das vielleicht wahr. Ich weiß es selbst noch nicht genau. Aber nehmt euch etwas Zeit und folgt meinen Gedanken.

Das Experiment hat gedanklich bereits vor einigen Jahren angefangen. Apple und Google haben damals Features veröffentlicht, die die eigene Smartphone-Nutzung tracken und analysieren. Facebook hat 2018 angekündigt, dass es nicht mehr um Engagement geht, sondern um time well spent. Dein Heroin-Dealer hilft dir quasi beim Entzug.

Offensichtlich hat die Tech-Industrie einen Punkt erreicht, an dem es nicht mehr nur um Masse und Wachstum gehen kann. Die Nutzer entwickeln Ermüdungserscheinungen, die Medien werden kritischer. Wir sind wahrlich die erste Generation von Cyborgs. Aber können wir diesen Schritt, der 2007 mit der Einführung des iPhones begonnen hat, wieder rückgängig machen? Man muss es wohl einfach mal ausprobieren, dachte ich mir und recherchierte nach einem Dumb Phone.

High design und low tech. Das ist das Versprechen vom Punkt MP02. Bestellt und ausgepackt, erwartete mich eine hochwertige Verarbeitung und ein ansprechendes Design (von Jasper Morrison himself). Kräftige Tasten, ein monochromes Display und griffige Materialien. Ein stimmiges Konzept. Oder? Das Gerät kostet über 300 Euro, davon kann man sich auch 5 Dumb Phones von Nokia kaufen. Und bekommt noch mehr oder weniger sinnvolle Features wie eine MP3-Funktion, eine Taschenlampe oder eine Kamera. Shit, davon kann man sich ein günstiges Android-Smartphone kaufen, mit einem App Store mit fünf Trillionen Möglichkeiten. All das hat das MP02 nicht.

Und da sind wir wieder bei meiner eingangs erwähnten Beschreibung: Ja, das ist fucking Hipster. Das ist nicht rational, sondern emotional. Ich möchte mich beschränken und bereichern gleichermaßen. Ist das inkonsequent? Mir geht es nicht ums Geldsparen, nicht um Konsumverzicht. Das Handy ist, egal ob smart oder dumb, ein Accessoire, das ich täglich mit mir rumschleppe. Deswegen bitte gerne in schön, wenn es geht.

Das Zweite, was mir nach dem Auspacken aufgefallen ist: Wie ungewohnt ist das denn bitte? Ich packe ein neues Handy aus, starte es, gehe eine halbe Stunde die wichtigsten Einstellungen durch – und lege das Gerät zur Seite. Erledigt, fertig. Der Spaß ist vorbei. Das ist alles. Die SIM-Karte ist eingelegt, ich bin erreichbar. Alles gut, ich kann mich anderen Dingen zuwenden. Was für eine Zeitersparnis, nur beim Einrichten!

Das bringt mich zur entscheidenden Frage: Ist beim Handy weniger mehr?

Natürlich verbringe ich weniger Zeit mit einem Gerät, das schlicht und einfach weniger kann. Natürlich ist das Gerät kleiner und ich genieße ein Handy, das problemlos in meine Hosentasche gleitet. Der Akku hält wesentlich länger (ca. vier Tage) und ich brauche mir keine Sorgen machen, wenn es herunterfällt. Kein Glas, kein Bruch. Gefühlt wurde auch meine Kommunikation dadurch bereinigt. Keine weitergeleiteten Boomer-Memes per WhatsApp. Kein oberflächliches Hallo, keine Informationen, die ich nicht brauche. Das alles sind Vorteile, die einen daran glauben lassen, ja weniger kann mehr sein. Aber auf was verzichte ich und wie sehr wird der Verzicht schmerzen?

Die Reaktionen auf das neue Gerät von meinem Umfeld waren von amüsiert (eher lockere Bekanntschaften) bis schockiert (Freunde, Familie, Partnerin). Und „schockiert“ ist keine Übertreibung. Ich war schockiert, wie sehr andere darüber schockiert sind. Ich habe doch nur auf ein anderes Handy gewechselt! Ich bin immer noch in dieser Welt präsent, ich bin erreichbar. Ich habe nicht vor, als Aussteiger in eine Höhle auf Teneriffa zu ziehen und mir einen langen Bart wachsen zu lassen. Relax, wieso löst das MP02 solche Reaktionen aus?

Bin ich nun ein Ausgestoßener, ist die Wahl der Kommunikationswege keine individuelle Entscheidung und ich verhalte mich asozial?

Zugegeben, ich bin auch bereits länger kaum mehr auf Social Media unterwegs. Mein Verhältnis mit den Plattformen ist kompliziert. Vielleicht war das Dumb Phone der zweite Schritt zu viel und hat die Alarmglocken in meinem Umfeld ausgelöst? Gott, das hört sich an, als hätte ich mich geoutet: „Seht her, ich möchte mit euren Umgangsformen, eurem Austausch nichts mehr zu tun haben. Ich bin Über-Mensch. Hier ist mein Symbol dafür, klatscht dieses komische MP02 auf den Tisch.“ Natürlich gepaart mit etwas Überheblichkeit, wie jemand, der dem SUV-Fahrer stolz von seiner BahnCard 100 erzählt.

Merke, Smartphones mit all seinen Kommunikationsmöglichkeiten sind heute Common Sense. Jeder, der sich dem verweigert, gilt zumindest als komisch. Die Wahl der Technologie ist keine individuelle Angelegenheit, sondern kann eine Zumutung für das Umfeld sein. Aber gut, auch wenn manche meine Entscheidung als komisch oder gar asozial ansehen, was vermisse ich selbst? Wo ist weniger eben doch nicht mehr?

Der Mehrwert von Smartphones lag für mich immer beim Thema Mobilität. Alles andere (Informationen, Spiele, E-Mails, News …) kann warten bis ich am Laptop bin. Ein Laptop ist prinzipiell auch in diesen Punkten meilenweit überlegen. Das Display größer, der Akku leistungsfähiger und die Eingabegeräte komfortabler. Das Smartphone ist aber ein portables Gerät. Das ist der Vorteil, es hilft einem unterwegs und wenn man unterwegs ist, muss man wissen, wohin und wie man sich bewegt. Bahn, Taxi, Car-Sharing, Tickets, Maps. All das sind extrem praktische Funktionen eines Smartphones. Mit dem MP02 muss ich mir vor dem Verlassen des Hauses die Bahnverbindung heraussuchen, eventuell auf Maps den weiteren Weg einprägen. Kann ich in der Straßenbahn am Automaten eigentlich Tickets mit Karte bezahlen? Wo muss ich anrufen, wenn ich ein Taxi bestellen möchte? Uff, das nervt.

Während ich als unterwegs navigationstechnisch aufgeschmissen bin, ergeben sich dafür ganz andere Welten. Die Welten der gnadenlosen Langeweile. Ob im Auto, im Zug oder (entschuldigt!) auf dem Klo – ich bin entkoppelt. Ich starre ins Nichts. Wie ein Raucher auf Entzug hat es mich anfangs nervös gemacht. Nach einer Weile wurde es einigermaßen gewohnt – und mittlerweile weiß ich damit umzugehen. Man sagt, im Schlaf verdaut das Gehirn die Eindrücke des Tages. Ich verdaue jetzt auch beim Warten auf die Bahn oder beim Anstehen im Supermarkt.

Und dieses Verdauen scheint eine Art Hygiene im Kopf zu produzieren. Weniger kurzfristige Eindrücke, mehr Zeit für Gedankenketten. Ich schaffe es wieder, einen Gedanken über einen ganzen Tag zu spinnen. Das muss man sich so vorstellen: Morgens im Bett kommt mir eine Idee, die ich beim ersten Kaffee und dem Weg zur Arbeit weiterspinnen kann. Das sind 1-2 Stunden Bedenkzeit. Zeit, die ich mit dem Smartphone in der Tasche nicht gefunden habe. Da ging ein Gedanke meist nur bis zum nächsten Artikel, der nächsten Nachricht oder dem nächsten App-Update. Ich kann mehr im Flow denken, abschalten und meine Gedanken über längere Zeit schweifen lassen.

Langeweile ist ein Segen für Kreativität. Und Notifications sind Fast Food, der einen nach wenigen Minuten wieder hungrig werden lässt.

Ein Cyborg (und genau das ist ein Mensch, der das Smartphone bis zu mehrere hundert Male am Tag benutzt) hat Superkräfte, ihm fehlt aber die Kontrolle über diese Kräfte. Er kann sie mal zu seinem Vorteil einsetzen, mal ist er eher unzufriedenes Opfer dieser. Wer diese Kräfte einfach nicht hat, kann kein Opfer werden. Es ist eine Gleichung, die mich bei meinem Experiment nicht wirklich weiterbringt. Ist es letztlich also egal, ob ich ein Dumb- oder ein Smartphone habe? Gleichen sich Vor- und Nachteile aus? Ist mein Umfeld erschrocken über meinen Egoismus, findet es insgeheim (und manchmal auch offen) aber auch mutig und richtig? Irgendwie erinnert es mich an die tragischen Superhelden-Figuren, die wir aus dem Kino kennen. Wir sind alle irgendwie gebrochene Superhelden mit unseren technischen Gadgets.

Vielleicht gibt es einen Mittelweg? Eine Möglichkeit die Vorteile des Smartphones zu genießen, ohne es zu übertreiben? Eine Form der Selbstbeherrschung? Das wäre schön. Aber lasst euch eins sagen, ich bin Raucher, und habe oft versucht, bewusst und kontrolliert zu rauchen. Aber Süchte lassen sich meist nicht kontrollieren. Ganz oder gar nicht.


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