Ein US-amerikanischer Literaturprofessor analysiert russische Erzählungen. Dieser Satz ist formal korrekt – und vermittelt dennoch völlig falsche Vorstellungen von dem Buch Bei Regen in einem Teich schwimmen von George Saunders.
Für mich ist es das beste Buch, das ich bisher über die Kunst des Erzählens und Schreibens gelesen habe. Punkt.
Aber von vorne: Der einleitende Satz weckt die Befürchtung, dass hier schwer zugängliche russische Literatur aus dem 19. Jahrhundert von einem Professor auf akademische Art behandelt wird. Aber das Gegenteil ist der Fall.
Saunders (der zwar an der Syracuse University lehrt, aber selbst auch prämierter Schriftsteller ist), schreibt locker, fast schon plaudernd, wenn er die Kurzgeschichten (von Gogol, Tschechow, Turgenjew und Tolstoi) auseinandernimmt. Die Geschichten sind allesamt ein Einblick in die Hochphase der russischen Erzählkunst. Ich würde das Buch genießen, wenn nur die Erzählungen abgedruckt wären. Doch die Analysen von Saunders holen noch mehr heraus und öffnen einem das Auge, für die Genialität, die dahinter steckt.
Während im Marketing immer von der Wichtigkeit des „Storytellings“ geredet wird und das Netz voller Tipps ist, kann man in diesem Buch mehr als in 100 Podcast, Youtube-Seminaren und Medium-Artikeln lernen. Saunders verzichtet dabei bewusst auf die üblichen Begriffe wie „Spannungsbogen“, „Twist“ oder „Klimax“. Er beschreibt eher, wie bestimmte Techniken auf den Leser wirken – und das sehr anschaulich und intelligent (ohne zu fachlich zu werden). Man fühlt sich, als würde man unter seinen Student*innen im Seminarraum sitzen.
Saunders hält einem als Leser den Spiegel vor und man beginnt zu verstehen, warum man an welcher Stelle im Text, eigentlich dies oder jenes empfindet. Warum bin ich hier verwirrt? Warum möchte ich hier das Buch nicht mehr weglegen? Und was will mir der Autor mit diesem Kniff eigentlich sagen?
Saunders beschreibt eine gute Geschichte als Blackbox. Der Leser geht in einem Zustand hinein – und kommt in einem anderen wieder heraus. Die Reise dazwischen wird intuitiv (nicht geplant) vom Autoren geleitet. Bei mir hat er das geschafft, und es war eine überraschend unterhaltsame Reise.
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